"Ich fühlte mich antriebslos und trotzdem angespannt. Alles war
unglaublich schwer, selbst das Heben eines Kaffeebechers schien
unmöglich, fast wie bei einer Lähmung. Dazu hatte ich starke
Konzentrationsschwächen", so beschreibt Anne Hoffmann die schwierige
Zeit ihrer Erkrankung. Die Berlinerin litt lange Jahre an psychischen
Erkrankungen, unter anderem an Depressionen. Wie der aktuelle
Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse (TK) zeigt, sind
psychische Krankheiten in Deutschland weiterhin auf dem Vormarsch.
Bei keinem anderen Diagnosekapitel verzeichnete die Krankenkasse im
letzten Jahrzehnt derartige Anstiege bei den Fehlzeiten. Unter
TK-versicherten Erwerbspersonen (Berufstätige und
Arbeitslosengeld-I-Empfänger) gab es 2010 einen Zuwachs psychisch
bedingter Fehlzeiten von fast 14 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Depressionen sind inzwischen eine Volkskrankheit in Deutschland.
Im Jahr 2010 belegte die Diagnose "Depressive Episode" (F32) erstmals
den traurigen Spitzenplatz bei den Fehltagen, noch vor
Rückenschmerzen und Erkältungen. Professor Dr. Norbert Klusen,
Vorsitzender des TK-Vorstandes: "Wir beobachten die Zunahme
psychischer Erkrankungen mit Sorge. Die aktuellen Auswertungen
zeigen, dass inzwischen auch immer mehr junge Menschen betroffen
sind." So wurde unter TK-versicherten Studierenden und jungen
Erwerbstätigen (20 bis 34 Jahre) eine deutliche Zunahme der
Antidepressiva-Verschreibungen festgestellt. Von 2006 bis 2010
stiegen die verordneten Tagesdosen bei den Studierenden um 79 und bei
den Erwerbspersonen um 70 Prozent.
Auffällig ist auch der Anstieg psychisch bedingter Ausfallzeiten
bei den Berufstätigen. Seit Beginn der
TK-Gesundheitsberichterstattung im Jahr 2000 sind die Fehltage wegen
Psychischer und Verhaltensstörungen um 57 Prozent gestiegen.
Psychische Störungen spielen bei den Fehlzeiten eine besonders große
Rolle, weil Krankschreibungen aufgrund von Depression, Angst- oder
Belastungsstörungen mit durchschnittlich 41 Tagen sehr lange dauern.
"Das bedeutet für die Unternehmen enorme Produkti-onsausfälle, für
die Krankenkassen hohe Kosten und für die Patienten meist eine
wochen- oder monatelange Leidenszeit", so Klusen.
Wie häufig psychische Diagnosen gestellt und Antidepressiva
verschrieben werden, ist regional sehr unterschiedlich. So erhalten
20- bis 34-jährige Erwerbspersonen und Studierende in den neuen
Bundesländern seltener eine psychische Diagnose, die Berliner,
Hamburger und Saarländer hingegen besonders oft. Trotz
überdurchschnittlich vieler psychisch Kranker werden in Berlin und
Hamburg verhältnismäßig wenig Antidepressiva verschrieben. Ein Grund
für diesen auf den ersten Blick überraschenden Befund könnte die
größere Anzahl von Psychotherapeuten in den Großstädten sein. Die
Auswertung von Kontakten zu Psychotherapeuten bestätigt diese
Theorie: Hamburger und Berliner zwischen 20 und 34 liegen
überdurchschnittlich häufig auf der Couch eines Therapeuten.
"In Deutschland orientiert sich die Versorgung psychisch kranker
Men-schen meist an den Therapieangeboten vor Ort und leider nur
selten an den spezifischen Bedürfnissen der Patienten" bemängelt
Klusen. Insbesondere schwere Fälle werden meist stationär behandelt.
Damit werden die Menschen jedoch aus ihrem gewohnten Lebensumfeld
herausgerissen. Nach der Entlassung fehlt vielen Patienten konkrete
Unterstützung, so dass sie bei der nächsten Krise wieder in der
Klinik vorstellig werden. Um diesen negativen Kreislauf zu
unterbrechen und den Erkrankten ein individuelles Therapieangebot zu
machen, hat die TK das "Netzwerk psychische Gesundheit" ins Leben
gerufen. Das Konzept sieht vor, dass die Patienten mithilfe von
aufsuchender Betreuung zu Hause (home treatment), Rückzugsräumen und
qualifizierten Ansprechpartnern rund um die Uhr in ihrem gewohnten
familiären, beruflichen und sozialen Umfeld bleiben können.
Bisher steht das Angebot in München, Stuttgart, Berlin, Bremen,
Augs-burg, Lübeck, Kiel, dem Kreis Plön, in Neumünster und Umgebung
sowie in mehreren niedersächsischen Regionen zur Verfügung. Anne
Hoffmann, die wegen Depressionen 18 Monate im Krankenhaus verbracht
hat, ist sich sicher: "Ein Projekt mit home treatment und
Krisenpension hätte meine Klinikaufenthalte wahrscheinlich
überflüssig gemacht. In jedem Fall wäre es wesentlich leichter
geworden, einen Umgang mit meiner Erkrankung zu finden." Inzwischen
arbeitet die Berlinerin selbst in einer Krisenpension und hilft
psychisch Kranken und ihren Angehörigen, mit akuten Krisen umzugehen.
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