fit und munter - Altersblindheit: "Dieser AOK-Vertrag ist für Patienten eine Mogelpackung"

fit und munter

Altersblindheit: "Dieser AOK-Vertrag ist für Patienten eine Mogelpackung"


Mit einem vertraglich zugesicherten, finanziellen
Bonus will die AOK Baden-Württemberg Augenärzte belohnen, wenn diese
von Altersblindheit bedrohte Patienten aus rein ökonomischen Gründen
mit einem nicht zugelassenen Medikament behandeln, obwohl zugelassene
Therapien zur Verfügung stehen. Die Patienten werden über diese
Bonus-Regelung jedoch nicht informiert. Ein entsprechender
Facharzt-Vertrag, der zur Zeit im Sozialministerium von
Baden-Württemberg geprüft wird, ist daher nach Auffassung der
Selbsthilfeorganisation PRO RETINA Deutschland e.V. eine
Mogelpackung. Er ist sozialrechtswidrig, setzt Ärzte und Patienten
unter Druck und beschädigt vor allem das Vertrauensverhältnis
zwischen Arzt und Patient.

ALLE DOKUMENTE ZU DIESER PRESSE-INFORMATION FINDEN SIE HIER:
http://www.pro-retina.de/aok-vertrag

Menschen mit der Augenerkrankung Altersabhängige
Makula-Degeneration (AMD) dürften die klein gedruckte Schrift des
2-seitigen Merkblattes der AOK Baden-Württemberg kaum entziffern
können. Weil sich in ihrer Netzhaut an der Stelle des schärfsten
Sehens (Makula) Flüssigkeit ansammelt und die Sehzellen zerstört, ist
dadurch die Lesefähigkeit bei der so genannten feuchten Form der AMD
als erstes beeinträchtigt. Spätestens dann muss die Behandlung
umgehend beginnen, um den weiteren Verlust der Sehkraft zu stoppen.
http://www.pro-retina.de/dateien/aok-merkblatt-fuer-patienten.pdf
http://ots.de/EF0zD

"Um die Versorgung von Patienten mit AMD und anderen
Augenerkrankungen zu optimieren", lobt sich die AOK Baden-Württemberg
in einer Pressemitteilung, wollen die Krankenkasse und die operativ
tätigen Augenärzte und Kliniken in Baden-Württemberg durch einen
Facharztvertrag "gemeinsam eine wirtschaftliche und qualitativ
hochwertige, wirksame Versorgung für die Erkrankung der feuchten
Altersabhängigen Makula-Degeneration und weiterer Erkrankungsbilder
am Auge schaffen."

"In der Tat muss die Versorgung von AMD-Patienten hierzulande
dringend verbessert werden", erklärt Ute Palm, stellvertretende
Vorsitzende von PRO RETINA Deutschland e.V., einer
Selbsthilfeorganisation für Menschen mit degenerativen
Netzhauterkrankungen. "Doch dieser Vertrag der AOK Baden
Württemberg", so Palm weiter, "ist für Patientinnen und Patienten
eine Mogelpackung."

Die AOK erschwert diesen nämlich nicht nur, die Vorteile und
rechtlichen Rahmenbedingungen des Vertrages zu entziffern. Sie
verschweigt ihnen vor allem einen ganz wesentlichen Passus: Hinter
dem Monstersatz "Rationaler Pharmakotherapiezuschlag je IVOM des
Abrechnungsmonats bei Erreichen des jeweiligen Schwellenwerts der
Arzneimittelausgaben" verbirgt sich ein Bonus für Ärzte, der diesen
ein bestimmtes Verordnungsverhalten versüßt. Massive finanzielle
Anreize sollen die Ärzte bei mehreren Augenerkrankungen veranlassen,
kostengünstige Substanzen einzusetzen, die für die jeweilige
Indikation allerdings nicht zugelassen sind, obwohl zugelassene
Medikamente verfügbar sind.
http://www.pro-retina.de/dateien/ivom-vertrag-aok-bawue-komplett.pdf

Solche Konstruktionen können die Arzt-Patienten-Beziehung massiv
beeinträchtigen. Darin ist sich PRO RETINA Deutschland e.V. nicht nur
mit anderen Patientenorganisationen, etwa dem Deutschen Blinden- und
Sehbehindertenverband oder dem Deutschen Diabetiker Bund, sondern
auch mit ärztlichen Standesverbänden einig. Der Patient kann sich
nicht mehr sicher sein, ob der Arzt seine Therapie-Empfehlung aus
medizinischen oder ökonomischen Gründen ausspricht. Schließlich droht
ihm die Kündigung des Vertrages, wenn seine durchschnittlichen
Arzneimittelkosten pro Injektionsbehandlung um 25 Prozent über dem
Durchschnitt der Vertragsärzte liegen. Zwar werde der Patient in die
Therapie-entscheidung eingebunden, doch lehre die Erfahrung, weiß
Palm, dass die meisten Patienten diese lieber dem Arzt ihres
Vertrauens überlassen. Spritzt der Arzt das nicht zugelassene, aber
billigere Medikament, wird er belohnt: bei 1.200 Spritzen pro Jahr,
was große Praxen und Kliniken erreichen, winken dann 84.000 Euro
zusätzlich. http://ots.de/httJu

"Offenkundig geht auch die AOK selbst davon aus, dass ohne
finanziellen Anreiz und aus rein medizinischen Erwägungen die Ärzte
wahrscheinlich anders entscheiden würden - sonst wäre der Bonus
unnötig", kritisiert Palm.

Im Musterblatt des ärztlichen Aufklärungsbogens für die Behandlung
der feuchten AMD sind zwei Medikamente aufgeführt, die in das
erkrankte Auge gespritzt werden können. Die Wirkstoffe sind nicht
identisch, können aber die Sehfähigkeit vergleichbar erhalten oder
sogar verbessern. Allerdings ist nur der Wirkstoff Ranibizumab
(Handelsname: Lucentis) nach entsprechenden klinischen Prüfungen von
den Gesundheitsbehörden zugelassen. Nicht für die Augenheilkunde,
sondern ausschließlich als Krebsmedikament zugelassen ist hingegen
Bevacizumab (Avastin). Über diesen steht im Merkblatt, dass "weniger
Studien zur Wirksamkeit und Sicherheit vorliegen" und "sich
rechtliche Konsequenzen aus der Off-label-Behandlung, also der
Therapie außerhalb der zugelassenen Indikation ergeben". Dazu gehört
etwa die fehlende Produkthaftung des Herstellers. Verursacht der
Wirkstoff Komplikationen und Nebenwirkungen, haftet nicht die
Pharmafirma, sondern der behandelnde Arzt. Außerdem heißt es: "Es ist
nicht ausgeschlossen, dass bestimmte Nebenwirkungen unter Avastin
häufiger auftreten. Außerdem muss mit einer etwas höheren
Injektionsfrequenz gerechnet werden."
http://www.pro-retina.de/dateien/aufklaerungsvorlage.pdf

"Wir fragen uns ernsthaft, warum sich Patientinnen und Patienten
freiwillig einem solchen Risiko aussetzen sollten", sagt Ute Palm.
"Wir hoffen, dass die Parteien, welche die Landesregierung in Baden
Württemberg tragen und sich auf Bundesebene stets lautstark für die
Rechte von Patientinnen und Patienten einsetzen, diese Rechte auch
durchsetzen, wenn sie die Möglichkeit dazu haben."

Über PRO RETINA Deutschland e.V.:

Die PRO RETINA Deutschland e.V. - Selbsthilfevereinigung von
Menschen mit Netzhautdegenerationen - wurde 1977 von Betroffenen und
deren Angehörigen als gemeinnütziger Verein gegründet, um sich selbst
zu helfen. Es ist eine bundesweit tätige Organisation mit mehr als 60
Regionalgruppen und mehr als 6.000 Mitgliedern. Sie bietet
Informationen und Beratung und versteht sich als Interessenvertretung
der Patientinnen und Patienten in der Öffentlichkeit. Um einen
Beitrag zur Entwicklung wirksamer Therapien zu leisten, engagiert
sich PRO RETINA Deutschland e.V. auch in der Forschungsförderung.
http://www.pro-retina.de

Über die feuchte Altersabhängige Makula-Degeneration: In
Deutschland erkranken pro Jahr schätzungsweise 50.000 zumeist ältere
Patienten an der feuchten Altersabhängigen Makula-Degeneration (AMD).
Die Erkrankung ist die häufigste Ursache für Altersblindheit in
westlichen Industrienationen. Den Betroffenen droht binnen kurzer
Zeit der Verlust der Sehkraft, wenn nicht umgehend eine Therapie
eingeleitet wird.



Pressekontakt:
Barbara Ritzert
ProScience Communications - Die Agentur für
Wissenschaftskommunikation GmbH
Andechser Weg 17 · 82343 Pöcking
Fon: +49 8157 9397-0 · e-mail: ritzert@proscience-com.de
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