fit und munter - Wie die Mindelburg zu einer Wiege der modernen Schönheitschirurgie wurde

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Wie die Mindelburg zu einer Wiege der modernen Schönheitschirurgie wurde

Von Alexander Hauk / www.bayern-nachrichten.de

Mindelheim (aha) - Unter den braunen Sandalen von Gottfried Stäger knarzen die alten Holzdielen auf dem geräumigen Dachboden der Mindelburg. Auf dem ehemals wohl höchstgelegenen «Sportplatz» im bayerischen Mindelheim werden alte Erinnerungen wach: «Hier haben wir Fußball gespielt», sagt der rüstige 81-Jährige und schaut sich im Obergeschoss des imposanten Gemäuers um. Das thront weithin sichtbar auf dem Georgenberg über der schwäbischen Kleinstadt. Mehr als fünf Jahre hat Stäger hier verbracht, als Patient. Denn die Burg im Unterallgäu - einst Sitz des Ritters Georg von Frundsberg (1473-1528) - war zeitweise ein Lazarett.
Anfang 1945 war Stäger mit schweren Kriegsverletzungen in die Spezialeinrichtung für Gesichts- und Kieferverletzte gekommen. In zahlreichen Operationen gaben ihm Ärzte ein neues Aussehen. Nach und nach wurden die Methoden ausgereifter, etliche neue Behandlungstechniken wurden entwickelt. In Fachkreisen gilt die Mindelburg deshalb als eine Wiege der modernen Schönheitschirurgie.

Der riesige Dachboden war sozusagen das Freizeitzentrum der Patienten. Doch das ist längst Vergangenheit. Seit fast 60 Jahren wurde hier kein Fußballspiel mehr ausgetragen. Der abgewetzte Gummiball und die Holzbretter, die als provisorische Tore dienten, sind verschwunden. Und auch an das Speziallazarett erinnert im Innern des Gebäudes nichts mehr. Nach 1950 wichen die Operationssäle und Patientenbetten Büroräumen und großen Druckmaschinen. Seitdem hat auf der Burg die Verlagsgruppe Sachon Holding GmbH & Co. ihren Sitz. Wo früher die OP-Tische standen, hat inzwischen die Unternehmerfamilie Sachon ihr Privatquartier aufgeschlagen.

Die Mitarbeiter produzieren Fachmagazine, unter anderem für die Brau- und Getränkeindustrie, für Maler und Lackiermeister. «Eigentlich bieten wir keine Führungen durch die Mindelburg an, aber in diesem speziellen Fall machen wir eine Ausnahme», sagt Anita Elsäßer vom Sachon-Verlag. Und so betreten die ehemaligen Patienten Gottfried Stäger und Friedrich Wendorf nach all den Jahren noch einmal den Ort, an dem sie ihr Gesicht und die Hoffnung auf ein normales Leben zurückbekamen.

Stäger und Wendorf gehören zu jenen Männern, die mit ihren vernarbten Gesichtern jahrzehntelang das Straßenbild Mindelheims mitbestimmten. Insgesamt wurden laut Stäger um die 4000 Versehrte in der Kreisstadt an der Mindel behandelt. Meist waren es junge Menschen, die bei gefährlichen Einsätzen an der Front durch schwere Verletzungen so entstellt waren, dass sie von ihren Angehörigen und Bekannten kaum noch erkannt wurden. Einen Eindruck vermitteln die Schwarz-Weiß-Fotografien aus dem Nachlass von Dr. Johannes Müller (1909-1996), einem der damals auf der Mindelburg praktizierenden Ärzte. Die Text- und Bilddokumente werden heute von Stadtarchivar Dr. Andreas Steigerwald verwaltet.

Stäger wurde bein einem Angriff auf die zur Festung erklärten Stadt Breslau am 17. Februar 1945 verletzt: «Wahrscheinlich eine Granate hat mir das Kinn weggerissen», erzählt er heute – noch immer bewegt. Mit einem Flugzeug vom Typ Ju 52 wurden der Unteroffizier und weitere Schwerstverletzte aus der brennenden Stadt nach Dresden geflogen: «Dort wurde mir erst einmal die herunterhängende Lippe angenäht», erinnert er sich. Drei Jahre lang konnte er nichts Festes zu sich nehmen, musste sich flüssig ernähren, von Fettbrühe, Kirsch- und Pflaumensaft. In insgesamt 32 Operationen verliehen ihm die Ärzte ein neues Gesicht. Heute werden seine Narben von einem Bart verdeckt.

Zwei Namen tauchen in den Erzählungen der beiden Kriegsveteranen immer wieder auf: die der beiden leitenden Ärzte auf der Mindelburg, Prof. Dr. Dr. Martin Hermann und seines Nachfolgers Dr. Johannes Müller. Beide Mediziner waren im Januar 1945 Hals über Kopf vor der heranrückenden Roten Armee aus Breslau geflüchtet, zusammen mit weiteren Gesichtschirurgen, Schwestern, Sanitätssoldaten, Technikern, Patienten – insgesamt mehr als 200 Menschen – und der OP-Einrichtung des Reservelazaretts IV. Pferde standen ihnen nicht zur Verfügung. Jeder der insgesamt elf Holzkarren wurde von 15 bis 20 Verwundeten über die verschneiten Landstraßen gezogen. Bei Temperaturen von bis zu minus 20 Grad legte die Gruppe etwa alle 400 Meter eine kurze Rast ein. Endlich, nach einer vierwöchigen Odyssee, kam sie in Mindelheim an.

«Durch Kriegsärzte wie Hermann und Müller wurde die gesamte plastisch-ästhetische Chirurgie entscheidend weiterentwickelt.» Prof. Dr. Dr. Werner Mang, Leiter der Bodenseeklinik in Lindau am Bodensee, ist des Lobes voll für seine Kollegen von einst. Noch heute basierten viele Operationstechniken und Publikationen auf ihren Erkenntnissen. Vor schwierigen rekonstruktiven Operationen schlage er immer noch Werke von Kriegsärzten auf, gesteht der wohl bekannteste Schönheitschirurg Deutschlands. Auch der Vizepräsident der Vereinigung der Deutschen Ästhetisch-Plastischen Chirurgen, Prof. Dr. Dr. Christian Gabka, bestätigt: «Vieles hat sich aus den damaligen Verletzungen und ihrer Behandlung entwickelt. Sogar die vor kurzem in Frankreich durchgeführte Gesichtstransplantation.»

So leisteten die Ärzte auf der Mindelburg Pionierarbeit. Manchmal operierten sie tagelang nur an einem Gesicht. Teile des Beckenknochens, einer Rippe oder eines Schienbeins setzten sie als Kieferersatz ein. Aus der Brust, aus dem Bauch, den Armen oder dem Rücken des Patienten schnitten sie einen Hautfettlappen, den sie nach und nach im Gesicht einpflanzten. Da dieser Hautfettlappen ständig durchblutet sein musste, konnte er nicht komplett in einer OP angenäht werden. Das geschah dann in einem der nächsten Eingriffe.

Auf dieser Weise erhielt mancher Patient ein fehlendes Gaumendach aus Bauch- oder Brusthaut, eine Nase, Wangenteile oder Lippen aus Brust-, Rücken-, Stirn- oder Armhaut. Stäger fällt ein, dass es damals keine Narkose, sondern nur eine örtliche Betäubung für die Patienten gegeben hatte: «Auf der Pritsche ist manchmal der Angstschweiß gestanden.»

Einfachere Kieferbrüche heilten meist in sechs bis acht Wochen. «Oft handelte es sich aber bei den Kiefer- und Gesichtsverwundungen um komplizierte Brüche mit Zungenzerreißungen, Gaumendachdefekten und größeren Weichteilverlusten», so Wendorf – nach seinen Operationen fast selbst schon ein Spezialist. Er hatte genau an seinem 22. Geburtstag einen Durchschuss mit Kieferzertrümmerung erlitten.

Bekanntester Patient auf der Mindelburg war der spätere NATO-General Johannes Steinhoff (1913-1994). Wenige Tage vor Kriegsende war er Testflüge mit einer Messerschmitt Me 262 geflogen, dem ersten deutschen Düsenflugzeug. Dann geschah das Furchtbare: Kurz nach dem Start stürzte die Maschine ab und zerschellte in einem Flammenmeer. Steinhoffs Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, das linke Auge erblindet. «Der Patient war seelisch gebrochen, flüchtete sich hinter große Sonnenbrillen und lebte vollkommen abgeschieden», heißt es in einem Archivtext. Die Ärzte und das Personal leisteten ihm und den anderen Patienten auch seelischen Beistand. «Einige Verwundete haben sich das Leben genommen, weil sie mit ihrer Entstellung nicht fertig geworden sind», sagt Wendorf. Viele Frauen haben ihre Männer verlassen, haben sich scheiden lassen.

«Die meisten von uns waren am Boden zerstört und sind hier wieder aufgebaut worden, etwa durch die Veranstaltung von bunten Abenden.» Der ehemalige Patient setzt seine Reise in die Vergangenheit im Keller der Mindelburg fort. Da sei früher die Küche des Krankenhauses gewesen. «Jeden Tag haben hier zwischen 10 und 15 Patienten Kartoffeln geschält», erinnert er sich. Das Essen sei lange Zeit knapp gewesen: «Wir haben uns Steigeisen besorgt und die jungen Krähen aus dem Nest geholt, die dann zunächst im Kochtopf, später als Taube auf den Tellern gelandet sind.» Das Lazarett hat der Krähenpopulation langfristig nicht geschadet. Noch heute wimmelt es im Wald um die Burg von den Vögeln.

Und die hungrigen Bewohner der Burg haben die Krähenmahlzeiten ebenfalls gut überstanden. Schon nach kurzer Zeit konnte Wendorf wieder auf seiner Klarinette üben. Bald trat er mit einer Gruppe von Gesicht- und Kieferverletzten in und um Mindelheim auf. «Von dem verdienten Geld habe ich mich mehrmals vom Küchendienst freigekauft», lacht der 84-Jährige. Heute ist Küche ein Umkleideraum mit Schränken für die Sachon-Mitarbeiter.

Die beiden Kriegsveteranen, die in der Mindelburg einen wichtigen Teil ihres Lebens verbrachten, wenden sich in ihren Erinnerungen wieder den Ärzten zu. Lazarett-Chef Johannes Müller sei sehr verehrt worden. In Anlehnung an Ritter Georg von Frundsberg, der «Vater der Landsknechte» genannt wird, erhielt Müller noch zu Lebzeiten den Beinamen «Vater der Gesichtsverletzten». «Er hatte goldene Hände», schwärmt Stäger. 1948 hätte Müller seinem Vorgänger Hermann als Universitätsprofessor nach Mainz folgen können. Er habe sich aber lieber um seine Versehrten gekümmert. Selbst nach der Auflösung des Lazaretts auf der Mindelburg und der Verlegung nach Bad Tölz im Oktober 1950. «Sein Versprechen «Ich verlasse Euch nicht» hat der Hannes bis zu seiner Pensionierung gehalten», sagt der alte Mann und bekommt feuchte Augen.

Heute leben noch 19 ehemalige Patienten des Speziallazaretts. 2003 musste der deutschlandweit einzigartige «Verein der Gesichts- und Kieferverletzten» aufgelöst werden. Viele der einst mehr als 100 Mitglieder konnten altersbedingt nicht mehr am Vereinsleben teilnehmen, mehrere waren gestorben. Stäger und Wendorf bedauern das, verstehen es aber. Und sie haben mit ihrem Schicksal Frieden geschlossen – seit vielen Jahren: «Für mich war die Verletzung ein Geschenk, weil ich weg von der Front gekommen bin», sagt Wendorf, bei dem erst im vergangenen Dezember noch vier Implantate ins Unterkiefer eingesetzt wurden. «Ich habe viele Jahre nach Kameraden gesucht», merkt Stäger an und fügt nach einer Pause hinzu: «Ich bin der Einzige meiner Einheit, der lebend aus der Festung Breslau gekommen ist.»
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